Musische Bildung am Gymnasium

“Musik” (griechisch: mousikh tecnh = Musenkunst) war im klassischen Altertum die Geist und Gemüt bildende Betätigung, im Unterschied zum Körpertraining durch die Gymnastik. Der wohl älteste europäische Fächerkanon, bereits 410 (!) von M. Capella aufgestellt, nämlich die Artes liberales, in denen die gebildeten Standespersonen unterrichtet sein mussten, zählt die Musik zu den mathematisch-realen Disziplinen des Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie; dazu kamen die sprachlichen Fächer des Trivium: Grammatik, Dialektik und Rhetorik.

Altehrwürdig ist also die herausragende Bedeutung der musischen Bildung. Demgegenüber steht heute häufig die Ansicht, dass Musik ein Nebenfach sei, außer im Musischen Gymnasium kein Vorrückungsfach, in manchen Jahrgangsstufen ganz außen vor. Die Zeit und der finanzielle Aufwand, gar ein Instrument zu lernen, werden von vielen Eltern gescheut, deren Kinder nicht gerade Spitzentalente sind. Die Frage "Was bringt’s?” steht auch unausgesprochen deutlich im Raum.

Auf diese Frage geben eine Reihe von Studien mit beachtlichen Schülerzahlen nun eine aufschlussreiche Antwort. Amerikanische, Schweizer und verschiedene deutsche Untersuchungen zeigen, dass Kinder, die neben oder sogar teilweise anstatt dem normalen schulischen Unterricht zusätzlich in Musik unterrichtet werden, auch in den anderen Fächern besser abschneiden.

Überraschend war, dass die Beschäftigung mit Tönen und Klängen auch das abstrakte Denken förderte. Besonders die Sprachfertigkeit nahm zu. Zudem nahmen die sozialen Spannungen in den Testklassen deutlich ab. Die Kooperationsbereitschaft und das Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl stiegen, die Verbundenheit der musizierenden Schüler untereinander war deutlich höher als die der Vergleichsgruppen.

Vergleichen wir diese Befunde mit der eigenen Erfahrung, so erscheint uns das wohl nicht allzu überraschend: Was stiftet mehr Identität in einer Schule als ein gelungenes Schulkonzert? Mit den musischen Aktivitäten – dem dicht gepackten Schulalltag oft mühsam genug abgerungen – stellt sich die Schule auch in der Öffentlichkeit dar. Theateraufführungen und musikalische Darbietungen prägen wesentlich die Erinnerung an die eigene Schulzeit.

Trotzdem ist es für Eltern eine Frage, ob das Kind durch das Erlernen eines Instruments nicht überfordert sein wird. Was passiert, wenn die Lust am Üben schwindet? Holt man sich nicht ein Konfliktfeld ins Haus?

Bei der Antwort auf diese wichtigen Bedenken muss im Vordergrund stets das Interesse des Kindes stehen. Ein ungeliebtes Instrument, zu viel Druck beim Üben werden eher im Unbewussten einen Zusammenhang zwischen Musik und Leid entstehen lassen. Daher ist es wichtig und inzwischen auch weitgehend gute Praxis, das Kind mit einer solchen Methodik an das Instrument heranzuführen, dass keine Verspannungen entstehen und die Beherrschung allmählich wächst, ja man nutzt quasi den Eigenschwung des kindlichen Interesses aus. Auch hier gilt: Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg! Lustbetonte Erlebnisse spornen an und tragen auch einmal durch eine Zeit des Widerwillens.

Kommen dann die Gruppeneffekte – der Ansporn durch gemeinsames Musizieren, das gegenseitige aufeinander angewiesen sein – hinzu, entsteht eine starke positive Bindung, die zum Üben motiviert.

Was, wenn es aber doch zum Aufgeben des Instruments kommt?

Dies ist in der Pubertät recht häufig der Fall, wenn die Selbstfindung damit einhergeht, dass das bisher gewohnte konflikthaft über Bord geworfen wird. Für Eltern ist es oft nicht leicht, dann loszulassen und dem Kind diesen Freiraum zuzugestehen, aus der Angst heraus, dass die Mühen und Aufwendungen der früheren Jahre   vergeblich waren. Eine Tübinger Forschungsarbeit kann hier den Eltern Mut machen. Auch wenn in der Pubertät der Instrumentalunterricht aufgegeben wird, bleibt diesen Menschen vieles ihr Leben lang erhalten: die Bereicherung der Persönlichkeit durch das Kennen und Verstehen von Musik, die Erfahrung, durch Musik viel unmittelbarer mit Menschen kommunizieren und sich ausdrücken zu können, als dies sprachlich möglich ist.

Forschungsbefunde aus der Physiologie und der Immunologie belegen zudem eindrucksvoll den Wert der Musik für die Gesundheit.

Eigene Musikerzeugung – ob instrumental oder Gesang – ist dazu geeignet, die Gehirnwellenmuster in die Entspannungslage zu bringen. Dies ist besonders wichtig, da in unserer modernen Welt eine Dauergeräuschbelastung vorhanden ist, die es in der Menschheitsgeschichte so nie gegeben hat. Vorherrschend waren über Jahrmillionen Stille und Naturgeräusche. Alles ungewohnte wurde als Alarmsignal interpretiert. Da das Ohr keine Möglichkeit hat, eine Reizabschaltung zu machen, wie etwa das Auge, das man schließen kann, so führt diese latente und unbewusste Alarmbereitschaft zwar zu einer Ausblendung der bewussten Geräuschwahrnehmung, aber auch zu einer Aktivierung derjenigen neuralen Strukturen, die im Gefahrenfall nötig sind. Damit einher geht eine Erhöhung des Muskeltonus, besonders der Gefäße, und als dessen Folge ein erhöhter Blutdruck.

Musik – besonders das Singen einfacher Harmonien – hebt diesen Alarmzustand auf. Die geringere Schmerzempfindlichkeit beim Anhören vor allem klassischer Musik ist bereits gut belegt. Die Produktion bestimmter Neurotransmitter als wichtiger Bestandteil der Immunabwehr des Körpers etwa bei Infektionen konnte nachweislich durch (gemeinsames) Singen und Musizieren beschleunigt werden. Erstaunlich ist ebenfalls das Ergebnis einer Studie an Jugendlichen, die seit dem Kindesalter ein Instrument spielen. Das Corpus callosum – die Verbindung der beiden Gehirnhälften – ist bei ihnen signifikant dicker und besteht aus mehr Fasern als bei einer Vergleichsgruppe.

Man führt dies darauf zurück, dass es bei keiner anderen Bewegung so intensiv nötig ist, die beiden Körperhälften, insbesondere die an Nervenfasern reichen Finger beider Hände, zu koordinieren. Seit langem bekannt ist ja, dass durch Reize synaptische Verbindungen im Gehirn erst hergestellt werden. Das Instrumentalspiel vermittelt nun besonders viele Reize, die beide Gehirnhälften gleichermaßen beanspruchen und somit auch aufbauen.

Eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung wird damit begünstigt. Durch die bessere Strukturierung und Differenzierung der Nervenzellen durch die musischen Erfahrungen werden auch die übrigen Gehirnfunktionen günstig beeinflusst – im Sinne einer “tönenden Entwicklungshilfe”.

Auch wer ein Kind hat, das kein Interesse an Instrumentalunterricht hat, kann seinem Kind die positiven Wirkungen der Klänge vermitteln, wenn es ermutigt wird, sich zu Musik zu bewegen – zu tanzen, zu singen, zu skaten o.ä.

Welche Konsequenzen haben diese Forschungen für den Stellenwert der musischen Fächer in der Schule?

Eine Reduzierung dieses Bereiches kann keinesfalls im Sinne unserer Kinder sein! Die Musikpädagogen und Kunsterzieher sind heute sehr gut ausgebildete und hoch motivierte Menschen, die den Kindern Zugänge zur Musik, zur künstlerischen Ausdrucksfähigkeit und zu deren Verständnis eröffnen können, die über die Möglichkeiten der meisten Elternhäuser weit hinaus gehen. Ganzheitliche Entwicklungsmöglichkeiten zu erhalten und zu eröffnen, ist in unserer hoch komplexen Welt am Beginn des 3. Jahrtausends geradezu überlebensnotwendig.

Die Personalabteilungen der großen Firmen haben den Wert der musischen, besonders instrumentalen Fähigkeiten längst erkannt, beweisen sich doch darin wichtige Schlüsselqualifikationen:

Größtmögliche Qualität des eigenen Beitrages bei gleichzeitig höchst entfalteter Fähigkeit zum Zusammenwirken – das sind die Erfolgsvoraussetzungen der Zukunft.

Elvira Werner, Dipl.Psychologin